Introduktion
Ein klärendes Wort zum unten angefügten Text der Rede
Chief Seattle ist eindeutig und unbestritten eine historische Person der amerikanischen Geschichte. Es hat ihn gegeben, er hat gelebt, das ist eine Tatsache. Dass er die ihm zugeschriebene Rede tatsächlich gehalten hat, ist nur durch eine einzige Quelle verbürgt: und zwar erst 33 Jahre später, 1887, in einem von Henry A. Smith in der Zeitung Seattle Sunday Star veröffentlichten Artikel. Das mag noch als glaubwürdig angesehen werden.
Jedoch bestehen an der Genauigkeit der nach seinen Notizen gemachten Überlieferung der Rede erhebliche Zweifel, da Smith Chief Seattles Sprache nicht verstand. Darüber hinaus erfuhr diese Rede im Lauf der kommenden Generationen mehrere poetisch wie politisch motivierte Ergänzungen und Umformungen, wenn man so will, Variationen. Es gibt höchstwahrscheinlich einen harten Kern, der sich auf den unmittelbaren Anlass, den Landverkauf und die Umsiedlung der Indianer ins Reservat bezieht.
Mich persönlich interessiert eigentlich wenig, ob jedes Wort tatsächlich von Chief Seattle stammt. Entscheidend ist für mich der Sinn, der Geist, die Botschaft. Bei der Bergpredigt interessiert mich auch nicht, ob Jesus tatsächlich gelebt hat und wenn ja, ob er genau das gesagt hat, sondern die Botschaft dieser (seiner ?) Worte und deren Bedeutung und Tiefe ist für mich unabweisbar.
Chief Seattle's Rede
Die Rede des Häuptlings Seattle an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1854.
Der große Häuptling in Washington sendet Nachricht, dass er unser Land zu kaufen wünscht.
Der große Häuptling sendet uns auch Worte der Freundschaft und des guten Willens. Das ist freundlich von ihm, denn wir wissen, er bedarf unserer Freundschaft nicht. Aber wir werden sein Angebot bedenken, denn wir wissen, wenn wir nicht verkaufen, kommt vielleicht der weiße Mann mit Gewehren und nimmt sich unser Land. Wir werden also unsere Entscheidung treffen…
Was Häuptling Seattle sagt, darauf kann sich der große Häuptling in Washington verlassen, so sicher, wie sich unser weißer Bruder auf die Wiederkehr der Jahreszeiten verlassen kann. Meine Worte sind wie die Sterne, sie gehen nicht unter.
Und ich sage jetzt dem großen Häuptling in Washington…
Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig, jede glitzernde Tannennadel, jeder sandige Strand, jeder Nebel in den dunklen Wäldern, jede Lichtung, jedes summende Insekt ist heilig, in den Gedanken und Erfahrungen meines Volkes. Der Saft, der in den Bäumen steigt, trägt die Erinnerung des roten Mannes. Denn wir sind ein Teil der Erde, und sie ist ein Teil von uns. Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern, die Rehe, das Pferd, der große Adler sind unsere Brüder.
Wenn also der große Häuptling in Washington uns Nachricht sendet, dass er unser Land zu kaufen gedenkt, so verlangt er viel von uns. Der große Häuptling teilt uns mit, dass er uns einen Platz gibt, wo wir angenehm und für uns leben können. Er wird unser Vater sein und wir seine Kinder. Aber kann das jemals sein?
Gott liebt Euer Volk und hat seine roten Kinder verlassen. Er schickt Maschinen, um dem weißen Mann bei seiner Arbeit zu helfen, und baut große Dörfer für ihn. Er macht Euer Volk stärker, Tag für Tag. Bald werdet Ihr das Land überfluten wie die Flüsse, die die Schluchten hinabstürzen nach einem unerwarteten Regen.
Mein Volk ist wie eine ablaufende Flut – aber ohne Wiederkehr. Gott ist Euch gut gesonnen, und wir sind Waisen. Wir werden Euer Angebot, unser Land zu kaufen, bedenken. Das wird nicht leicht sein.
Wenn wir Euch das Land verkaufen, müsst Ihr wissen, dass es heilig ist, und Eure Kinder lehren, dass es heilig ist und dass jede flüchtige Spiegelung im klaren Wasser der Seen von Ereignissen und Überlieferungen aus dem Leben meines Volkes erzählt. Das Murmeln des Wassers ist die Stimme meiner Vorväter. Die Flüsse sind unsere Brüder – sie stillen unseren Durst. Die Flüsse tragen unsere Kanus und nähren unsere Kinder.
Wenn wir unser Land verkaufen, so müsst Ihr Euch daran erinnern und Eure Kinder lehren: die Flüsse sind unsere Brüder – und Eure -, und Ihr müsst von nun an den Flüssen Eure Güte geben, so wie jedem anderen Bruder auch.
Wir wissen, dass der weiße Mann unsere Art nicht versteht. Ein Teil des Landes ist ihm gleich jedem anderen, denn er ist ein Fremder, der kommt in der Nacht und nimmt von der Erde, was immer er braucht. Die Erde ist sein Bruder nicht, sondern sein Feind, und wenn er sie erobert hat, schreitet er weiter. Er lässt die Gräber seiner Väter zurück – und kümmert sich nicht. Er stiehlt die Erde von seinen Kindern – und kümmert sich nicht. Er behandelt seine Mutter, die Erde, und seinen Bruder, den Himmel, wie Dinge zum Kaufen und Plündern, zum Verkaufen wie Schafe oder glänzende Perlen. Sein Hunger wird die Erde verschlingen und nichts zurücklassen als eine Wüste.
Unsere Art ist anders als die Eure. Vielleicht, weil der rote Mann ein Wilder ist und nicht versteht. Warum gibt es keine Stille in den Städten der Weißen? Keinen Ort, um das Entfalten der Blätter im Frühling zu hören oder das Summen der Insekten?
Was ist das Leben wert, wenn man nicht den einsamen Schrei des Ziegenmelkervogels hören kann, oder das Gestreite der Frösche am Teich bei Nacht? Ich bin ein roter Mann und verstehe das nicht. Der Indianer mag das sanfte Geräusch des Windes, der über eine Teichfläche streicht – und den Geruch des Windes, gereinigt vom Mittagsregen oder schwer vom Duft der Kiefern.
Die Luft ist kostbar für den roten Mann – denn alle Dinge teilen denselben Atem – das Tier, der Baum, der Mensch – sie alle teilen denselben Atem.
Der weiße Mann scheint die Luft, die er atmet, nicht zu bemerken; wie ein Mann, der seit vielen Tagen stirbt, ist er abgestumpft gegen den Gestank. Aber wenn wir Euch unser Land verkaufen, dürft Ihr nicht vergessen, dass die Luft ihren Geist teilt mit all dem Leben, das sie enthält. Der Wind gab unseren Vätern den ersten Atem und empfängt ihren letzten. Und der Wind muss auch unseren Kindern den Lebensgeist geben. Und wenn wir Euch unser Land verkaufen, so müsst Ihr es als ein besonderes und geweihtes schätzen, als einen Ort, wo auch der weiße Mann spürt, dass der Wind süß duftet von den Wiesenblumen.
Das Ansinnen, unser Land zu kaufen, werden wir bedenken, und wenn wir uns entschließen anzunehmen, so nur unter einer Bedingung. Der weiße Mann muss die Tiere des Landes behandeln wie seine Brüder.
Ich bin ein Wilder und verstehe es nicht anders. Ich habe tausend verrottende Büffel gesehen, vom weißen Mann zurückgelassen – erschossen aus einem vorüberfahrenden Zug. Ich bin ein Wilder und kann nicht verstehen, wie das qualmende Eisenpferd wichtiger sein soll als der Büffel, den wir nur töten, um am Leben zu bleiben.
Was ist der Mensch ohne die Tiere? Wären alle Tiere fort, so stürbe der Mensch an großer Einsamkeit des Geistes. Was immer den Tieren geschieht – geschieht bald auch den Menschen. Alle Dinge sind miteinander verbunden.
Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde. Wenn Menschen auf die Erde spucken, bespeien sie sich selbst. Denn das wissen wir, die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört zur Erde. Der Mensch schuf nicht das Gewebe des Lebens, er ist darin nur eine Faser. Was immer Ihr dem Gewebe antut, das tut Ihr Euch selber an.
Das Ansinnen des weißen Mannes, unser Land zu kaufen, werden wir bedenken.
Aber mein Volk fragt, was denn will der weiße Mann kaufen?
Wie kann man den Himmel oder die Wärme der Erde kaufen?
Oder die Schnelligkeit der Antilope?
Wie können wir Euch diese Dinge verkaufen – und wie könnt Ihr sie kaufen?
Wenn wir nicht die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers besitzen – wie könnt Ihr sie von uns kaufen?
Könnt Ihr die Büffel zurückkaufen, wenn der letzte getötet ist?
Wir werden Euer Angebot bedenken. Wir wissen, wenn wir nicht verkaufen, kommt wahrscheinlich der weiße Mann mit Waffen und nimmt sich unser Land.
Aber wir sind Wilde. Der weiße Mann, vorübergehend im Besitz der Macht, glaubt, er sei schon Gott – dem die Erde gehört. Wie kann ein Mensch seine Mutter besitzen?
Wir werden Euer Angebot, unser Land zu kaufen, bedenken, wir werden Euer Angebot bedenken, in dass Reservat zu gehen. Wir werden abseits und in Frieden leben. Es ist unwichtig, wo wir den Rest unserer Tage verbringen. Es sind nicht mehr viele. Aber warum soll ich trauern über den Untergang meines Volkes, Völker bestehen aus Menschen – nichts anderem. Menschen kommen und gehen wie die Wellen im Meer.
Selbst der weiße Mann, dessen Gott mit ihm wandelt und redet, wie Freund zu Freund, kann der gemeinsamen Bestimmung nicht entgehen. Vielleicht sind wir doch – Brüder. Wir werden sehen.
Auch die Weißen werden vergehen, eher vielleicht als alle andern Stämme. Aber in Eurem Untergang werdet Ihr hell strahlen – angefeuert von der Stärke des Gottes, der Euch in dieses Land brachte – und Euch bestimmte, über dieses Land und den roten Mann zu herrschen. Diese Bestimmung ist uns ein Rätsel.
Wenn die Büffel alle geschlachtet sind, die wilden Pferde gezähmt, die heimlichen Winkel des Waldes schwer vom Geruch vieler Menschen und der Anblick reifer Hügel geschändet von redenden Drähten, wo ist das Dickicht? – fort, wo der Adler? – fort.
Gott gab Euch Herrschaft über die Tiere, die Wälder und den roten Mann, aus einem besonderen Grund, doch dieser Grund ist uns ein Rätsel.
Vielleicht könnten wir es verstehen, wenn wir wüssten, wovon der weiße Mann träumt, welche Hoffnungen er seinen Kindern an langen Winterabenden schildert und welche Visionen er in ihre Vorstellungen brennt, so dass sie sich nach einem Morgen sehnen. Aber wir sind Wilde, die Träume des weißen Mannes sind uns verborgen.
Wir werden Euer Angebot bedenken.
Wenn der letzte rote Mann von dieser Erde gewichen ist und sein Gedächtnis nur noch der Schatten einer Wolke über der Prärie, wird immer noch der Geist meiner Väter in diesen Ufern und diesen Wäldern lebendig sein. Denn sie liebten diese Erde, wie das Neugeborene den Herzschlag seiner Mutter. Wenn wir Euch unser Land verkaufen, liebt es, so wie wir es liebten, kümmert Euch, so wie wir uns kümmerten, behaltet die Erinnerung an das Land, so wie es ist, wenn Ihr es nehmt. Und mit all Eurer Stärke, Eurem Geist, Eurem Herzen, erhaltet es für Eure Kinder und liebt es – so wie Gott uns alle liebt.
Denn eines wissen wir – unser Gott ist derselbe Gott. Diese Erde ist ihm heilig. Selbst der weiße Mann kann der gemeinsamen Bestimmung nicht entgehen.
Vielleicht sind wir doch – Brüder. Wir werden sehen…